In Italien gibt es ein Phänomen, dass als Erbsarmut bekannt ist, nämlich, arbeiten zu gehen und trotzdem arm zu bleiben. Gemäß den Daten der Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen (Eu-Silc) ist in den letzten Jahren der Anteil der von Armut bedrohten Erwerbstätigen in Italien stetig gestiegen, und zwar von 9,5 % im Jahr 2010 auf 11,5 % im Jahr 2022. Tendenz weiter steigend. Damit steht Italien auf den vorletzten Platz in der EU-Rangliste, nur Spanien ist mit 11,7 % noch schlechter dran. Frankreich und Deutschland liegen mit einem Anteil von 7,5 % bzw. 7,2 % im Jahr 2022 immer noch unter dem europäischen Durchschnitt.
Arm trotz Arbeit – Woran liegt es?
Die Gründe der Erwerbsarmut finden sich in Italien an etlichen Stellen. Einerseits gibt es im Land noch keinen Mindestlohn. Es wird zwar ständig darüber debattiert, aber keine Regierung fühlte sich bisher verantwortlich, einen Mindestlohn einzuführen. Im Gegensatz sind die Verbraucherpreise laut ISTAT zwischen Januar 2021 und Dezember 2023 um 17,3 % gestiegen, während die Tariflöhne nur um 4,7 % zulegten.
Die aktuelle Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat ihre Position zum Mindestlohn in einem offenen Brief auf der Internetpräsenz der italienischen Regierung mitgeteilt. Unter anderem heißt es darin:
„Wir alle teilen das Ziel, die Arbeitnehmer zu schützen und eine sehr lange Ära niedriger Löhne zu beenden, die jetzt durch die Inflation „erdrückt“ werden. Über die Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht werden kann, gibt es unterschiedliche Meinungen. Ich für meinen Teil habe bekräftigt, dass der wichtigste Weg zur Anhebung der Einkommen der ist, dass eine Nation zum Wachstum zurückkehrt. Zu viele Jahre lang ist Italien nicht kontinuierlich und robust gewachsen, was sich leider auch in weiterhin niedrigen Löhnen bei steigenden Lebenshaltungskosten niederschlägt. Wir müssen diese Sackgasse des Nichtwachstums durchbrechen. Wir haben einen Anfang gemacht, die Daten sind positiv: die Arbeitslosigkeit ist auf ein Minimum gesunken, die Zahl der Beschäftigten hat einen Rekordwert erreicht und die Zahl der unbefristeten Arbeitsverträge ist historisch gesehen stabil.“
Keine Einführung eines Mindestlohns
An dieser Stelle muss man jedoch erwähnen, dass sich die Regierung Meloni bisher weigert, einen Mindestlohn einzuführen. Im Dezember 2023 wurde ein Gesetzentwurf der Partei MoVimento 5 Stelle zur Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 9 Euro sowie die Stärkung von Tarifverhandlungen seitens der Partei und Regierung Melonis zu Fall gebracht. Etwa 3,5 Millionen Personen arbeiten in Italien aktuell zu einem vertraglichen Mindestlohn von weniger als 9 Euro brutto pro Stunde. Im August 2024 rief die Demokratische Partei Italiens, die PD, zu einer Volksinitiative auf. Diese Gesetzesinitiative ermöglicht eine direkte Beteiligung der Bürger durch die Sammlung von Unterschriften, um die Einführung eines Mindestlohn im Parlament erörtern zu können. Es werden 50.000 Unterschriften benötigt. Dann ist eine Erörterung des Mindestlohns für das Parlament verpflichtend. Die Unterschriften können an zugelassenen Schaltern oder online durch die Verwendung von SPID oder CIE abgegeben werden.
Gemäß ISTAT würde die Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 9 Euro pro Stunde zu einer Erhöhung des Jahreseinkommens von 804 Euro von rund 3,5 Millionen Arbeitnehmern führen. Wenn man nur die Arbeitnehmer mit einem Jahresgehalt zwischen 13.550 und 18.000 Euro berücksichtigt, so würden nahezu 400.000 Beschäftigte vom Mindestlohn in Höhe von 9 Euro profitieren. Mehr als die Hälfte (53 %) würden eine Gehaltserhöhung von mehr als 1.500 Euro erhalten. Laut Eurostat haben in Italien 63 % der italienischen Haushalte Probleme, über die Runden zu kommen.
Bildungsniveau ist ausschlaggebend
Ein weiterer Grund ist das Bildungsniveau in Italien. Sicherlich gehört das Bildungsniveau zum ausschlaggebenden persönlichen Faktor. In Italien liegt das Armutsrisiko für Personen mit einer Grund- bzw. Hauptschulbildung bei 18,7 %, während es für Personen mit Hochschulbildung nur 5,1 % beträgt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass der erreichte Bildungsabschluss maßgeblich an der Arbeitssuche und Bezahlung ausschlaggebend ist.
Staatsbürgerschaft spielt eine Rolle
Ein oft nicht anvisierter Punkt ist die Staatsbürgerschaft. Laut den Daten der vorliegenden Erhebung (Eu-Silc) liegt das Armutsrisiko von Arbeitnehmern mit italienischer Staatsangehörigkeit fast 15 Prozentpunkte unter dem von Ausländern. Wer also eine italienische Staatsbürgerschaft vorweisen kann, scheint in Italien besser bezahlt zu werden, auch wenn nur ein Grund- bzw. Hauptschulabschluss vorliegt. Dass dies gängige Praxis ist, kann am Beispiel der Tomatenpflücker in Apulien gesehen werden. Zumeist handelt es sich hierbei um außereuropäische Staatsbürger, meist aus Indien oder Afrika stammend, die für wenige Euros oft mehr als 12 Stunden pro Tag auf den Tomatenfeldern stehen und arbeiten. Italienische Staatsbürger bekommen für die gleiche Arbeit wesentlich mehr Geld. Leider gehört dieses Thema der ausgebeuteten ausländischen Arbeitern noch immer in Italien zu den geduldeten Umständen, bei denen die Regierung gerne wegschaut.
Befristete und ausgelaufene Arbeitsverträge
Ein weiterer Grund für Erwerbsarmut in Italien ist die Art der Beschäftigung. Das Armutsrisiko verdoppelt sich, wenn in Teilzeit gearbeitet wird (19,9 % gegenüber 9,7 % bei Vollzeit), ein befristeter Arbeitsvertrag oder eine Selbstständigkeit (17,0 %) vorliegt. Wenn ein befristeter Arbeitsvertrag vorliegt, so liegt das Armutsrisiko bei 16,2 % gegenüber derjenigen mit einem unbefristeten Vertrag (8,5 %). Aktuell arbeiten in Italien rund 6,7 Millionen Menschen mit ausgelaufenen Verträgen. Viele Arbeitgeber verlängern die Arbeitsverträge nicht. Arbeitnehmer sind dann gezwungen, ohne Arbeitsvertrag weiterzuarbeiten, riskieren jedoch dabei, dass sie von heute auf morgen gekündigt werden können, oder aber suchen sich eine neue Arbeitsstelle, was sich in Italien als durchaus nervenaufreibend und schwierig gestalten kann.
Familien mit Kindern bleiben oft arm
Schließlich gehört die Familienplanung ebenso zu den Faktoren, die Armut begünstigen. Familien mit Kindern haben es in Italien schwer, sich eine Existenz und Wohlstand aufzubauen, da es in Italien bis heute kein Kindergeld gibt, so wie wir es von Deutschland her kennen. Die finanzielle Last muss daher von den Eltern komplett allein getragen werden, weshalb sich heute viele italienische Paare gegen Kinder entscheiden, was sich letzten Endes auch auf die Geburtenrate auswirkt. Lag die Geburtenrate in Italien 1960 noch bei 2,4 Kindern pro Frau, so lag sie 2023 bei 1,2 Kindern. Dies bedeutet, es wurden in Italien 6 Kinder pro 1.000 Einwohner geboren. Zum Vergleich: In Deutschland lag die Geburtenrate im gleichen Zeitraum bei 1,35 Kindern pro Frau. Hinzu kommt, dass die Kosten für einen Kita-Platz in Italien von der Höhe des Gehalts abhängig ist. Viele Paare können sich keinen Kita-Platz leisten, denn nicht selten liegt der Preis bei mehreren Hundert Euro pro Monat. Häufig wird dann auf die Großeltern als Betreuung ausgewichen, sofern diese verfügbar sind. Wenn nicht, muss ein Elter zuhause bleiben und die Betreuung übernehmen, was dann unweigerlich zur Erwerbsarmut führt.