Wenn man an das Jüngste Gericht denkt, so denkt man sofort an drei Meisterwerke der Kunst: Das Jüngste Gericht der Sixtinischen Kapelle in Rom, das von Michelangelo Buonarroti (1536–1541) ausgearbeitet wurde, das Jüngste Gericht in der Scrovegni-Kapelle in Padua, das von Giotto di Bondone (1267–1337) ins Leben gerufen wurde und das Jüngste Gericht in der Basilika San Francesco in Assisi, das von Cesare Sermei aus Orvieto (1609–1668) gemalt wurde. In Italien sind diese Werke jedoch nicht die Einzigen. Bemerkenswert sind auch das Jüngste Gericht auf der Insel Torcello, in der laguna morta von Venedig in der Kirche Santa Maria Assunta und im dem von Luca Signorelli (1441-1523) im Dom von Orvieto. Im Prinzip ist Italien übersät mit Giudizi finali (Sg. Giudizio finale), wie das Jüngste Gericht auf Italienisch heißt.
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Die Engel, die den Himmel einrollen
Aber bleiben wir erst einmal bei der Arenakapelle, wie die Scrovegni-Kapelle in Padua auch genannt wird. Ganz oben beim Jüngsten Gericht befinden sich zwei Engel, zu beiden Seiten der Trifora, die so dargestellt sind, als ob sie den Himmel einzurollen versuchen. Aber warum? Dieses Motiv ist nach einem gängigen Motiv gemalt, einer mittelalterlichen Ikonografie, die das Ende der messbaren Zeit nach dem letzten göttlichen Gericht symbolisieren soll, sprich die Apokalypse.
Nach der Offenbarung nach Johannes 8.7-8.9 (Die Bibel, Einheitsübersetzung) wird die Apokalypse so beschrieben:
„Der erste Engel blies seine Posaune. Da fielen Hagel und Feuer, die mit Blut vermischt waren, auf das Land. Es verbrannte ein Drittel des Landes, ein Drittel der Bäume und alles grüne Gras. Der zweite Engel blies seine Posaune. Da wurde etwas, das einem großen brennenden Berg glich, ins Meer geworfen. Ein Drittel des Meeres wurde zu Blut. Und ein Drittel der Geschöpfe, die im Meer leben, kam um und ein Drittel der Schiffe wurde vernichtet.“
Offenbarung des Johannes 8.7-8.9
Im Sonett „Der Tag des Gerichts“ vom römischen Dichter Giuseppe Gioachino Belli (1791-1863) wird die Apokalypse wie folgt dargestellt:
„Zuletzt kommt noch ein Engelsschwarm herein, der löscht, wie sonst vorm Schlafengehen auf Erden, rasch alle Lichter aus – und Gute Nacht.“
Der Tag des Gerichts, Gioachino Belli
Engel, die den Himmel einrollen, sind, wie gesagt ein beliebtes Motiv der Mittelalterkunst. So finden wir diese auch in einer der weniger bekannten Kirchen Roms, in der Silvester-Kapelle der Basilica dei Santi Quattro Coronati, ein Komplex aus dem 4. Jahrhundert. Auch hier bläst ein Engel die Posaune und ein anderer rollt den Sternenhimmel ein.
Giotto arbeitete in Padua in Venetien von 1303 bis 1305 und sicherlich ist sein Jüngstes Gericht vom Niveau her nicht mit dem der Basilica dei Santi Quattro Coronati zu vergleichen. Aber dennoch zeigen beide Malereien die gleiche Szene auf.
Enrico Scrovegni sühnt die Schandtaten seines Vaters
Wer genau hinschaut, sieht am Fuße des Kreuzes den Auftraggeber des Freskos: Enrico Scrovegni, knieend und ein Modellhaus der Madonna überreichend, um die Schandtaten seines Vaters Reginaldo zu sühnen. Reginaldo Scrovegni, der zu Zeiten von Giotto und Dante Alighieri lebte, war bekannt als Wucherer, den Dante in seiner Göttlichen Kommödie im 17. Gesang des Inferno in den siebten Kreis der Hölle verbannte. Dort saßen die Gewalttätigen und diese wurden ewig bestraft. Der innere Ring des siebten Kreises besteht aus einer brennenden Wüste, auf der die Wucherer sitzen. Ständig regnet es Feuer und die Wucherer, die um ihre Hälse Taschen tragen, auf denen ihr Wappen zu erkennen ist, versuchen es zu verjagen. Sie weinen dabei jämmerlich. Zu Dantes Zeiten und somit zu Zeiten von Giotto gelten Geldverleiher, Wucherer, als gewalttätig. Sie sündigen mit ihren Wucherpreisen gegen die Kunst und im Weltbild des Mittelalters galt die Kunst als der Enkel Gottes.
Reginaldo Scrovegni wird dem Höllenfeuer übergeben
Reginaldo Scrovegni ist ebenso bei Giotto abgebildet. Er wird dem Höllenfeuer mit Sack und Pack übergeben. Man sieht ihn unten rechts in eine Höhle eintreten und somit in einen Verbannungsort, hinter ihm schreitet sein Diener, der ihm seine Reichtümer hinterher trägt. Diese Szene ist so herrliche menschlich: Ein Reicher, der versucht, all seine Schätze mit ins Jenseits zu nehmen, nichtsahnend, dass in nur ein paar Schritten der Höllenwächter ihn mitsamt seinem Reichtum in die Flammen werfen wird.
Das Jüngste Gericht auf der Insel Torcello
Auf der kleinen Insel Torcello ist ein weiteres sehr interessantes und sehenswertes Jüngstes Gericht dargestellt. Es handelt sich um die Kirche Santa Maria Assunta, die die Gerichtsszene in ein gigantisches byzantinisches Mosaik an der Kirchenfront über dem Eingang eingebettet hat. Wer also die Kirche betritt, dreht sich um und kann die Szene in ihrer gesamten Pracht bestaunen: vom Tod Christi zur Auferstehung und der Gang in die Unterwelt, wo Hades, der König der Unterwelt und die Verkörperung des Antichristen, wartet. Racheengel mit ihren langen Lanzen treiben die Verdammten in die Flammen, wobei über ihnen Hades einen Verdammten auf dem Arm hält. Oben sieht man wieder einen Engel, der den Sternenhimmel einrollen und somit wieder das Ende besiegeln möchte.
Luca Signorelli lässt in Orvieto Tote erwecken
Vier bis fünf Jahrhunderte später, mitten in der Renaissance, macht sich Luca Signorelli an die Arbeit, um das Jüngste Gericht im Dom von Orvieto zu schaffen.
Zwei überdimensionale Engel beherrschen die Szene der Auferstehung, in der sie mit ihren Posaunen die Toten erwecken. Mühsam kriechen sie aus dem Erdenreich, bleiben häufig zur Hälfte stecken, andere wiederum sind noch Skelette ohne Fleisch, wieder andere sind schon aus Fleisch und Blut geworden. Anschaulich und präzise malt Signorelli jedes Detail der Auferstehung, das bereits jetzt schon vorahnen wird, was uns in etwa 30 Jahren erwarten wird. Dann nämlich wird Michelangelo sein Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Kapelle beginnen. Sein Meisterwerk, das zu dem Meisterwerk aller Zeiten werden soll.
Aber zurück zu Signorelli, der ebenso meisterhaft die Hölle kreiert. Ganz oben wachen drei Engel mit Schwertern über die Verdammten, dass diese ihrer Strafe nicht entkommen. Unter ihnen schweben Dämonen, die die Verdammten mit ihren verrenkten Gliedmaßen zu Boden schleudern. Mittig sitzt eine Prostituierte auf dem Rücken eines gehörnten Dämons mit Fledermausflügeln, ängstlich und vielleicht nichtwissend, dass sie nun in die ewige Verdammnis überführt wird. Unter ihnen findet ein Gemetzel statt. Dämonen und Teufel mit grünen Gesäßen, einige von ihnen gehörnt, andere mit Dolchen ausgestattet, durchbohren und verstümmeln die Verdammten. Nur noch ihre Gliedmaßen zucken, ihre Leiber räkeln sich, in ihren Gesichtern spiegelt sich die Angst, das Leid und der Schmerz wieder. Einige von ihnen beten, andere wiederum weinen. Doch alles hilft nichts. Ihre Stunde hat geschlagen. Sie werden in die Verdammnis gebracht.
Das Jüngste Gericht von Michelangelo
Das Jüngste Gericht von Michelangelo ist zweifelsohne ein Meisterwerk, wie es die Kunst selten gesehen hat. Zugleich bringt es einige Kuriositäten mit, die hier näher betrachtet werden sollen. Michelangelo malte sein Jüngstes Gericht nicht wie alle anderen auf der gegenüberliegenden Seite des Altars, sondern direkt hinter dem Altar. Aber warum? Damit wollte er den Betrachter ermahnen, ihn mit seinen Schandtaten und den Konsequenzen konfrontieren, aber nicht erst beim Hinausgehen aus der Kapelle, sondern direkt beim Gebet.
Das Fresko ist etwa 170 qm groß und in ihm befinden sich hier und da einige Beobachter, die nur als Köpfe dargestellt sind und von Ecken, durch Wolken und zwischen Beinen hervorlugen.
Biagio da Cesena mit Eselsohren und Hodenbiss
In der rechten unteren Ecke befindet sich Mann mit Eselsohren und einer eigenartigen Physiognomie. Um ihn herum ist eine riesige Schlange gewickelt, die ihm den Brustkorb zuzudrücken droht. Damit aber noch nicht genug. Sie hat sich so um den Körper gewickelt, dass sie seinen Hoden beißt. Doch wer ist diese Person?
Der italienische Biograf, Architekt und Hofmaler der Medici Giorgio Vasari (1511-1574) berichtet darüber in seinen Viten mit ein Hauch von Schadenfreude:
„Messer Biagio da Cesena, Zeremonienmeister und gewissenhafter Mensch, der sich mit dem Papst in der Kapelle aufhielt, sagte, als er gefragt wurde, was er davon halte, dass es eine höchst unehrenhafte Sache sei, an einem so ehrenvollen Ort so viele nackte Menschen zu zeigen, die ihre Scham so ungebührlich zur Schau stellten, weshalb dies nicht das Werk einer Papstkapelle sei, sondern das von Badehäusern und Osterien. Michelangelo war darüber verärgert und wollte sich rächen, indem er ihn gleich nach seiner Abreise als Minos in der Hölle darstellte, mit einer großen Schlange um seine Beine und inmitten eines Teufelsberges.“
Messer Biagio da Cesena (1463-1544) war auch sonst ein kleinlicher Mensch. Als er das Fresko von Michelangelo sah, beschwerte er sich beleidigt beim Papst und verlangte, dass das Fresko sofort entfernt werden sollte. Der Papst fragte, wo der Künstler ihn denn gemalt habe. Da Cesena sagte ihm in der Hölle. Da antwortete ihm der Papst:
„Wenn Michelangelo euch im Fegefeuer gemalt hätte, hätte man noch etwas machen können. Aber in der Hölle, da kommt niemand mehr heraus.“
So ließ der Papst Biagio da Cesena in der Hölle schmoren – bis heute.
Die skandalösen Märtyrer
Eine ebenso kuriose Szene ist mittig ein wenig rechts zu finden. Dargestellt sind die beiden Märtyrer San Biagio und Santa Caterina in Kleidung.
Michelangelo wäre doch über diese Darstellung empört gewesen. Die beiden Märtyrer wurden nämlich nach dem Tod Michelangelos im Jahr 1564 nachträglich von Daniele da Volterra (1509-1566) verändert. Doch warum?
Als Michelangelo starb, wurde das ein Jahr zuvor beschlossene Dekret des Konzil von Trient umgesetzt. Dadurch wurde beschlossen, die bis dato nackten und als skandalös betrachteten Figuren von Michelangelo zu bekleiden. Es begann das Zeitalter der Gegenreformation.
Beauftragt wurde Daniele da Volterra, ein Mitarbeiter von Michelangelo, der den nackten Gestalten Leinentücher und Höschen anzog. Dies brachte ihm den Spitznamen braghettone, Höschenmaler, ein.
Er verbrachte also seine Zeit damit, den über 300 Personen des Freskos Hosen und Leinentücher mit einer Tempera anzuziehen. Diese konnte nach dem Moralsturm leicht wieder entfernt werden, sodass die nackten Gestalten wieder zum Vorschein kamen. Bis eben auf die beiden Märtyrer, die er wegkratzte und in neuer Position erschuf.
Ursprünglich malte Michelangelo die Santa Caterina nach vorne mit nackten Brüsten beugend über ihr Martyrium, das Zahnrad. Hinten über sie gebeugt malte er Biagio in einer Stellung, die den coitus a tergo vel more ferarum (den Geschlechtsverkehr von hinten nach Art der Tiere) suggeriert.
Hätte Michelangelo erfahren, dass ihm in sein Werk gepfuscht wurde, wäre er sicherlich empört gewesen. Er gestattete es niemanden, seine Meisterwerke jemals in Frage zu stellen. Noch nicht einmal dem Papst.
Michelangelo: Die da gemalt sind, waren auch ärmlich
Als eines Tages Papst Julius II. Della Rovere das Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle inspizieren wollte, sprich etwa 25 Jahre vor der Ausgestaltung des Jüngsten Gerichts, erklärte er Michelangelo, dass ihm die Malerei in ihrer Gesamtheit ein wenig ärmlich vorkomme. Michelangelo antwortete ihm selbstbewusst:
„Die da gemalt sind, waren auch ärmlich.“
Der Papst ging verdattert ab. Das Fresko blieb wie es Michelangelo erschaffen hatte.
Das Mysterium der menschlichen Haut
Er selbst hat sich als Selbstbildnis in das Fresko gemogelt, wie heute Kunstwissenschaftler glauben. Gemeint ist die menschliche Haut, die von einem bärtigen Mann in der Mitte des Freskos auf einer Wolke sitzend gehalten wird. In der einen Hand hält er ein Messer, in der anderen die menschliche Haut. Oft wird diese Figur als San Bartolomeo gesehen. Doch weshalb stellt sich Michelangelo im Jüngsten Gericht als alte runzlige menschliche Haut dar?
Als er das Jüngste Gericht erschuf, war Michelangelo bereits im fortgeschrittenen Alter in seinen 60er Jahren. Zudem wurde er durch die Darstellung einiger für damalige Verhältnisse obszönen Darstellungen als „Inventor delle porcherie“, sprich als Erfinder der Schweinereien betitelt. Als Michelangelo dies hörte, sagte er oft: „Gia mi stanno scorticando vivo.“, sprich „Sie häuten mich bereits bei lebendigem Leibe“. Deshalb bildete er sich im Jüngsten Gericht als Haut ab, fügte aber hinzu: „La mia allegrezza è la malinconia“, was übersetzt heißt „Meine Freude ist melancholisch.“